Erlösung in der Nachspielzeit: Deutschland schlägt Schweden

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24. Juni 2018
Erlösung: Toni Kroos nach dem Siegtreffer gegen Schweden
Liebe Leserin, lieber Leser,

der Atomkoffer, mit dem Boris Jelzin bei Bedarf einen Nuklearschlag hätte autorisieren können, war von Samsonite. Und er hatte ein handelsübliches Zahlenschloss, drei dieser lästigen geriffelten Rädchen, die immer klemmen, wenn man es eilig hat. Ich weiß das jetzt, weil Vera, meine Vermieterin in Jekaterinburg, laut auflachen musste, als sie es herausfand. Sie rief mich noch mal zurück vor die Vitrine und bat mich, mir das Ausstellungsstück ganz genau anzusehen. „Er ist von Samsonite!“

Das mag vielleicht nicht die wichtigste Erkenntnis dieser ersten WM-Woche sein, zumal nach einem Abend, an dem Deutschland, der Weltmeister, in der Gruppenphase zu scheitern drohte und erst durch ein Tor in der Nachspielzeit mit 2:1 gegen Schweden gewann, um im Turnier zu bleiben. Aber ich ahne: An den Atomkoffer werde ich mich noch etwas länger erinnern als an den genialen Freistoß von Toni Kroos. Das liegt zum einen daran, dass es im Fußball bekanntlich immer weiterweiterweiter geht. Es liegt aber auch daran, dass das „Boris Yelzin Presidential Museum“ von Jekaterinburg eine so brillant aufbereitete Ausstellung ist, wie ich bislang wenige gesehen habe. Als ich kürzlich mal wieder im Deutschen Museum in München war, konnte man dort auf viele Knöpfe drücken und es passierte wenig.

Im Jelzin-Museum sitzt man in einem sowjetischen Wohnzimmer im Stil der frühen 1990er-Jahre auf dem Sofa, auf allen Sendern eines alten Röhrenfernsehers läuft das Ballet „Schwanensee“, und auf einmal klingelt das Telefon. Soll man da jetzt rangehen? Ein aufgeregter Verwandter ist dran: In Moskau gibt es einen Putsch! So ging es tatsächlich vielen Russen am 19. August 1991, irgendwas stimmt nicht an diesem Tag, man spürt das hier regelrecht. Am Ende steht Jelzin in Moskau auf einem Panzer.

Jelzins aufmüpfige Rede vor dem Zentralkomitee im Oktober 1987 kann man in einem Originalsessel anhören. Und in der nachgebauten Wahlkampfzentrale, in der 1996 seine letzte Wiederwahl organisiert wurde, kann man sich auf den Computern von damals durch die Dateien klicken. „Dieses Museum hat meinen Blick auf Jelzin total verändert“, hat Vera gesagt, als wir später im Museumsrestaurant „1991“ einen Teller Pelmeni aßen, hergestellt nach dem Originalrezept von Naina Iossifowna, Jelzins Frau.

Spätestens jetzt – und so hatte dieser Museumsbesuch doch etwas mit der WM zu tun – entfaltete sich die Ambivalenz. Ich fragte mich: Was ist hier eigentlich die Botschaft? Dass Jelzin, Russlands erster frei gewählter Präsident, von 1991 bis 1999 nicht selten mit der Wodkaflasche neben dem Schreibtisch regierte, dass er einige wenige Russen sehr reich und viele sehr arm gemacht hat, das ist in der Ausstellung eher nicht das Thema. Aber wie muss man es verstehen, dass hier die Meinungsfreiheit, die Bürgerrechte so hochgehalten werden, die Jelzin seinem Volk damals erkämpft habe? Dass es eine „Freedom- of-Thought-and-Speech-Gallery“ gibt? In einem Russland, das Oppositionelle wegsperrt, Medien gleichschaltet? Was ist da so ein Museum, das ziemlich lässig die Bürgerrechte feiert: ein Ablenkungsmanöver? Eine geduldete Provokation weit im Osten, hinter dem Ural, wo Jelzin aufgewachsen ist? Immerhin, und das ist ja schon eine Menge in diesen Zeiten, regt es zum Nachdenken an.

Vera ist 1991 geboren. Wenn man sie fragt, was sie von Jelzin hält, sagt sie: „Fifty-fifty.“ Sie sagt das auch, wenn man sie fragt, was sie von Putin hält, oder von der Annexion der Krim.  Klar, man macht das nicht, einfach irgendwo einmarschieren, „wir sind im 21. Jahrhundert, was kommt als nächstes, Alaska?“ Aber Vera war kürzlich mal dort, für ein Spiel mit ihrer Basketballmannschaft, sie hat die Füße ins Schwarze Meer gehalten, es war wunderbar.

Und apropos Freiheit: Bedeutet Freiheit nicht auch, dass sich Vera nach unserem Museumsbesuch mit der Uber-App einen Wagen kommen lassen kann, um mit ihrer Freundin ins Kino zu fahren, „Ocean‘s 8“ mit Sandra Bullock und Cate Blanchett? Meinungsfreiheit, Pressefreiheit: Wenn all das selbstverständlich ist, kann man es leicht unverhandelbar finden. Aber wie viel wäre man persönlich bereit zu riskieren, um dafür zu kämpfen? Solche Fragen stellt man sich, wenn man als WM-Reporter im Jelzin-Museum von Jekaterinburg mal für einen halben Tag die WM beiseitelässt.

Aber keine Sorge: Ab sofort widme ich mich wieder ganz der fachkundigen Berichterstattung über das Spiel Japan gegen Senegal, das am Sonntag in Jekaterinburg stattfindet, Anpfiff 20 Uhr Ortszeit, alle Spieler wohlauf, es geht um die Qualifikation fürs Achtelfinale. Und bei der deutschen Mannschaft? Alles zum Spiel lesen Sie von meinen Kollegen Christof Kneer, Philipp Selldorf, Martin Schneider und Javier Cáceres, die in Sotschi im Stadion waren. Auch sie packen jetzt ihre Koffer und reisen weiter, und weil keiner von ihnen ein klemmendes Zahlenschloss hat, sind wir auch weiter für Sie in Russland unterwegs und halten die Augen auf.

 Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag. 


Claudio Catuogno, Stv. Ressorleiter Sport
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Der zweite WM-Spieltag: Deutschland zittert - und schlägt Schweden
KOMMENTAR
Deutschland bleibt bei der WM ein Favorit mit Problemen. Doch die emotionalen Schlusssekunden beim Sieg gegen Schweden könnten dem Team den Glauben an sich zurückgeben.

DEUTSCHLAND – SCHWEDEN 2:1
Bis zur letzten Minute der Nachspielzeit ist Deutschland vom Aus bedroht. Dann trifft Toni Kroos mit seinem Freistoß zum 2:1 - und das Achtelfinale ist wieder aus eigener Kraft erreichbar. Kroos beweist nicht nur mit dem Tor seinen überragenden Wert für die Mannschaft. Außerdem die Einzelkritik: Marco Reus überzeugt, Jérôme Boateng arbeitet erfolgreich am Platzverweis. Und der Live-Ticker zum Nachlesen: Joachim Löw weint vor Freude Nivea-Tränen.

SÜDKOREA – MEXIKO 1:2
Mexiko schlägt nach Deutschland auch Südkorea und festigt seine Stellung als unangenehme Mannschaft. Den Südkoreanern helfen auch die Psychospielchen ihres Torhüters nichts.

BELGIEN – TUNESIEN 5:2 
Gegen Tunesien zeigt Belgien einen beachtlich souveränen Fußball, der die Mannschaft weit tragen könnte. Trainer Martinez verspricht, dass das Team weiter wächst, Kapitän Hazard sagt ohne Umschweife: "Wir wollen das Finale erreichen."

SERBIEN – SCHWEIZ 1:2
Der frühere Bayern-Profi Xherdan Shaqiri ist beim 2:1 der Schweizer gegen Serbien Mann des Abends - doch er und Kollege Granit Xhaka leisten sich umstrittene Jubel-Gesten.

BRASILIEN – COSTA RICA 2:0
Neymar fällt beim Sieg gegen Costa Rica dreifach auf: Er beleidigt seinen Kapitän, feiert sein Tor mit einer düsteren Geste und bricht nach dem Schlusspfiff in Tränen aus.

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17 UHR: JAPAN – SENEGAL
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Schlusspfiff
„Ich hab laut geschrien, dass er flanken soll. Dafür darf ich mir jetzt einiges anhören in der Kabine.“ - Mats Hummels traute seinem Teamkollegen Toni Kroos das erlösende Freistoßtor gegen Schweden aus spitzem Winkel nicht zu.
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