Russland scheidet aus, England dankt Maguire

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8. Juli 2018
Im Halbfinale: Trainer Gareth Southgate (links) und Harry Maguire
Liebe Leserin, lieber Leser,

der Abendzug von Moskau nach Nischni Nowgorod hält unterwegs in Wladimir, einer Stadt namens „Stadt des militärischen Ruhms Kowrow“ und Dserschinsk. Das klingt reichlich fremd, trotzdem darf man sich so eine Reise nicht als Abenteuer vorstellen. Zeit, in diesen Städten auszusteigen, hat man als WM-Reporter eh nicht, allenfalls kann man aus dem Zugfenster einen Blick auf die klapprigen Busse werfen, die dort vor den Bahnhöfen warten, oder man sieht Wladimirer, Kowrower und Dserschinsker ihre Koffer über die Gleise schleppen, weil zwar in Moskau die U-Bahnhöfe Kathedralen sind, aber in Dserschinsk das Geld nicht für eine Unterführung gereicht hat. Es sind kleine Einblicke in den russischen Alltag jenseits der offiziellen Fifa-WM™-Spielorte.

Das Bahnfahren selber hingegen kommt einem vor, als wäre man in den Regionalexpress von München nach Garmisch geraten, mit Unterwegshalten in Pasing, der Stadt des militärischen Ruhms Weilheim in Oberbayern und Murnau. Okay, das mit der Ruhm-Stadt Weilheim hat man sich nur kurz vorgestellt. Es gibt gute Gründe dafür, dass deutsche Städte nicht solche Zusätze im Namen führen.

Der Zug jedenfalls gleicht der deutschen Version bis in viele Details, er ist, wie man den Logos entnimmt, von derselben deutschen Firma teilgefertigt. Ein paar Unterschiede gibt es allerdings. Beim Einsteigen empfangen einen streng dreinblickende Frauen, die graue Kostüme, spitze Mützchen und farblich abgestimmte Halstücher tragen, und prüfen Pass und Ticket. Ihre männlichen Kollegen kombinieren ihre Uniformen mit Einstecktuch und Anstecknadel. Nach der Abfahrt laufen diese Frauen und Männer noch einmal mit prüfendem Blick durch die Waggons, dann sind sie verschwunden. Dafür erscheinen jetzt Frauen mit Pferdeschwanz und blauen Schürzen sowie Männer, die den obersten Knopf ihres Hemdes offen tragen, und verkaufen Tee, Sandwiches und, ja, Souvenirs. Zum Beispiel Sticker der Stadt des militärischen Ruhms Kowrow. Es dauert eine Weile, bis man begreift, dass es die gleichen Männer und Frauen sind. Irgendwo in den russischen Zügen muss es eine Umkleidekabine geben, in der das Bahnpersonal nicht nur seine Kleidung, sondern auch seinen Gesichtsausdruck wechselt.

Der Schnellzug „Sapsan“ wiederum, der in unter vier Stunden die 700 Kilometer von Moskau nach Sankt Petersburg zurücklegt, ist ein abgewandelter ICE, mit dem Unterschied, dass die Toiletten in der zweiten Klasse nicht seit Hildesheim unbenutzbar sind. Außerdem stehen auch keine Stellwerksstörung und kein Böschungsbrand der pünktlichen Ankunft entgegen. Verzögerungen im Betriebsablauf sind bei der russischen Bahn nicht vorgesehen, aber jetzt höre ich auch schon wieder auf mit diesen billigen Spitzen gegen die Deutsche Bahn, die ja doch meistens besser und auch pünktlicher ist als ihr Ruf. Und die ihren Angestellten nicht zuletzt ein Tarifgehalt zahlt. Das sollte man nicht vergessen, wenn man sich in Russland über die vielen Leute freut, die - zumindest an den Bahnhöfen der WM-Spielorte - immerzu Zugfenster putzen und Bahnsteige fegen.

Nur dieser kleine Hinweis noch: Die englischen Ansagen kommen in den russischen Schnellzügen vom Band, weshalb kein Russe auf die Idee käme, ein Buch namens „Senk ju vor träwelling“ in den Handel zu bringen.

Kürzlich auf der Rückfahrt von Sankt Petersburg war allerdings einmal alles anders, da habe ich einen alten Waggon mit Sechserabteilen erwischt. Der diensthabende Schaffner lief von Tür zu Tür, um allen Fahrgästen persönlich eine Einweisung zu geben, in der die Worte Toiletskij, Restaurantskij und Schokoladskij vorzukommen schienen. Wenn man ihn nach einem Kaffee fragte, kam er mit einer blütenweißen Porzellantasse samt Untertasse und geschwungenem Kaffeelöffel zurück. Für einen Moment stellte ich mir vor, ich sei in der Sibirischen Eisenbahn unterwegs. Leider erst beim Aussteigen entdeckte ich in der Ablage ein Täschchen mit Reißverschluss, und da waren doch tatsächlich für jeden Reisenden ein Paar Hausschuhe drin.

Einmal fahre ich jetzt noch mit dem Zug nach Sankt Petersburg, zum Halbfinale der Franzosen gegen Belgien, und einmal wieder zurück nach Moskau. Bald darauf packen wir hier in unserer Moskauer SZ-Wohnung schon unsere Hausschuhe ein und die WM ist vorbei. Ob das Beste zum Schluss kommt, muss sich noch zeigen.  

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag. 


Claudio Catuogno, Stv. Ressortleiter SZ-Sport
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